Ein Projekt von Sprachbrücke Halle e.V.
Von Juli 2023 bis Februar 2025 begaben wir uns auf eine bewegende Reise – gemeinsam mit deutschen und migrantischen Frauen aus Afghanistan, Syrien, Palästina, der Ukraine und dem Iran. Unsere Mission: Die Lebensgeschichte von Batsheva Dagan, einer Überlebe nden der Shoah, nachzuzeichnen, ihre Erfahrungen weiterzutragen und daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen.
Das Projekt und seine Ziele
Verstehen beginnt mit Wissen. Deshalb war es uns wichtig, die Teilnehmerinnen mit einem tiefgehenden Verständnis für den Nationalsozialismus und seine Verbrechen auszustatten. Wir sprachen über die Shoah, die Ermordung von Kindern und Kranken, den Völkermord an Sinti und Roma, die Strukturen der Konzentrationslager und den systematischen Raub jüdischen Eigentums. Dieses Wissen bildete die Basis für eine intensive Auseinandersetzung – nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart
In zahlreichen Begegnungen, Diskussionen und Workshops entwickelten die Teilnehmerinnen ein Bewusstsein für Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Unter fachlicher Begleitung von Expert*innen und Ehrenamtlichen wurden sie zu Multiplikatorinnen ausgebildet, die ihr Wissen weitertragen und gegen heutige Formen des Hasses eintreten können. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf der Sensibilisierung für aktuellen israelbezogenen Antisemitismus sowie für Verschwörungsmythen – und auf der Frage, wie man diesen mit Wissen und Argumenten entgegentreten kann.
Methoden und Durchführung
Unser Projekt lebte von Vielfalt:
- Workshops und Seminare, die historisches Wissen vermittelten und aktuelle Entwicklungen beleuchteten
- Biografische Arbeit, die eine emotionale Verbindung zu den Opfern herstellte
- Besuche von Gedenk-und Erinnerungsorten um Geschichte greifbar zu mache
- Filmanalysen und Diskussionen(Schindlers Liste, The Zone of Interest, Shoah)
- Lektüre und Reflexionen über die Publikationen von Batsheva Dagan
Besonders berührend war die intensive Auseinandersetzung mit dem Leben von Batsheva Dagan. Sie überlebte Auschwitz, wurde später Psychologin und Autorin und widmete ihr Leben der Aufklärung. Leider verstarb sie am 25. Januar 2024, sodass eine persönliche Begegnung nicht mehr möglich war. Doch ihre Worte und ihr Vermächtnis begleiteten uns durch das gesamte Projekt.

Höhepunkte des Projekts
Ein besonders eindrucksvolles Element des Projekts war die Jahresabschlussveranstaltung , bei der die Teilnehmerinnen eine Fotoausstellung präsentierten. Mit beeindruckenden Bildern und persönlichen Erzählungen gaben sie Einblick in ihre Erlebnisse und Erkenntnisse aus dem vergangenen Jahr. Die Ausstellung machte sichtbar, wie tiefgehend die Auseinandersetzung mit der Thematik war – und wie sehr sie alle bewegt hatte
Ein besonderer Moment war uns ere Reise nach Krakau, wo wir unter der Führung von Pawel Krzak , einem ortskundigen Archäologen und Lyriker, tief in die jüdische Geschichte der Stadt eintauchten. Die Teilnehmerinnen erkundeten zudem in Krakow
- Die Fabrik Oskar Schindlers
- Das jüdische Viertel Kazimierz mit seinen verwinkelten Gassen
- Eine Synagoge, die von der reichen Kultur zeugt, die einst das Viertel prägte
- Die KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, der wohl ergreifendste Teil unseres Projekts

Der Besuch dieses Ortes ließ uns verstummen. Die Teilnehmerinnen liefen durch das Eingangstor mit der zynischen Inschrift Arbeit macht frei, sahen die endlosen Reihen von Baracken und die riesigen Felder von Stacheldraht. Besonders erschütternd war der Besuch in den Gaskammern, den Ruinen der Krematorien und den Räumen voller zurückgelassener Gegenstände – Berge von Schuhen, Koffern, Haaren. Sie bezeugten auf eindringliche Weise die Grausamkeit des nationalsozialistischen Mordprogramms. Die Stille dieses Ortes sprach lauter als Worte. Hier, wo Batsheva Dagan einst ums Überleben kämpfte, wurde uns allen bewusst, wie wichtig es ist, ihre Geschichte weiterzutragen.

Doch nicht nur Krakau, auch andere Orte hinterließen bleibende Eindrücke:
- Berlin: In den Gedenkstätten Stille Helden, Tiergartenstraße 4, Haus der Wannseekonferenz und der Topographie des Terrors wurde Geschichte greifbar
- Halberstadt: In der Moses Mendelssohn Akademie setzten wir uns mit jüdischer Kultur auseinander. Besonders erschütternd war der Fund antisemitischer Schmierereien auf Holocaust-Gedenksteinen am Domplatz. Dieses Erlebnis führte uns eindringlich vor Augen, dass Antisemitismus kein Relikt der Vergangenheit ist.
- Bernburg: Die Gedenkstätte zur NS-Euthanasie machte uns sprachlos – und ließ uns erkennen, wie wichtig unser Engagement gegen jede Form von Menschenverachtung ist.



Diese Reisen waren keine bloßen Exkursionen. Sie waren Momente der Erkenntnis, der Betroffenheit – und des Entschlusses, nicht zu schweigen
Bedeutung und nachhaltige Wirkung
Die Teilnehmerinnen gingen noch einen Schritt weiter: Auf eigenen Wunsch hin erweiterten sie das Themenspektrum des Projekts und begannen, selbstständig zu recherchieren, welchen Einfluss der Nationalsozialismus auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Syrien hatte. Diese Eigeninitiative zeigte, wie tief das Projekt bei ihnen verankert war – und dass das Erlernte nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft betrifft.
Wer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, übernimmt Verantwortung für die Zukunft. Gerade die Arbeit mit Biografien zeigte, wie sehr sich die Teilnehmerinnen mit den Opfern identifizierten. Sie fühlten mit ihnen, trugen ihre Geschichten weiter – und entwickelten daraus eine klare Haltung gegen Antisemitismus, Rassismus und Hass.
Ein besonders wichtiger Aspekt war die aktive Beteiligung der Frauen an der Gestaltung des Projekts. Sie hielten Referate, organisierten Workshops und brachten eigene Ideen ein. Es war ihr Projekt, ihre Stimmen wurden gehört.
Mit dieser Arbeit hat Sprachbrücke Halle e.V. nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch Mut gemacht: Mut, sich einzumischen. Mut, sich gegen Antisemitismus zu stellen. Mut, für eine offene und vielfältige Gesellschaft einzutreten.
Dank
Ohne Unterstützung wäre all dies nicht möglich gewesen. Unser herzlicher Dank gilt der Amadeu Antonio Stiftung und der Postcode Lotterie, die dieses Projekt finanziell ermöglicht haben. Ebenso danken wir allen, die uns begleitet, inspiriert und ermutigt haben – und nicht zuletzt den Teilnehmerinnen selbst, die ihre Herzen geöffnet und Geschichte lebendig gemacht haben.
Denn Erinnerung ist nichts Statisches. Sie ist ein Auftrag für die Zukunft.